Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
Speak No Evil
Von einem der auszog, den verstörendsten Film aller Zeiten zu drehen
Von Lutz Granert
Vor allem das zu Provokationen neigende Regieenfant-terribleLars von Trier hat die Messlatte etwa mit dem schmerzhaft-depressiven „Antichrist“ oder dem gnadenlos-zynischen „The House That Jack Built“ schon ziemlich hochgelegt. Trotzdem kündigte der bisher vor allem als Darsteller in dänischen Fernsehserien bekannteChristian Tafdrup tollkühn an, gemeinsam mit seinem Bruder und Co-AutorMads Tafdrup den „verstörendsten Film der dänischen Kinogeschichte“ drehen zu wollen. Oft genug entpuppen sich solche Interview-Aussagen ja als PR-Gag …
… und auch in diesem Fall tun wir uns schwer, „Speak No Evil“ komplett widerspruchsfrei dieses Prädikat zu verleihen. Aber was auf jeden Fall stimmt: Der satirisch angehauchte Slowburner trifft definitiv einen (besonders zum Ende hin extrem schmerzhaften) Nerv! Der Horror-Thriller entwickelt sein Grauen nämlich ganz langsam, aber mit einer unbändigen Konsequenz ganz stimmig aus den Zwängen der sozialen Normen von Höflichkeit und Alltags-Etikette. Das führt erst mal zu hochnotpeinlichen Fremdschäm-Situationen – bevor der vermeintlich harmlose Familienurlaub endgültig in Richtung blanker Albtraum kippt.
Patrick (links: Fedja van Huêt) benimmt sich konsequent daneben – aber seinen Gastgeber darauf anzusprechen, kostet Bjørn (Morten Burian) ein hohes Maß an Überwindung.
Bjørn (Morten Burian), Louise (Sidsel Siem Koch) und ihre Tochter Agnes (Liva Forsberg) verbringen einen entspannten Urlaub in der Toskana. Mit der Besichtigung pittoresker Städtchen, dem Baden im hoteleigenen Pool sowie dem Schlemmen italienischer Spezialitäten lässt es sich gut aushalten. Dabei kommen sie mit dem Niederländer Patrick (Fedja van Huêt) ins Gespräch, der mit seiner Frau Karin (Karina Smulders) und ihrem verschüchterten Sohn Abel (Marius Damslev) im selben Hotel wohnt.
Wieder zurück in der dänischen Heimat, erhalten Bjørn, Louise und Agnes eine Einladung ihrer neuen Bekannten, sie doch mal in den Niederlanden zu besuchen. Doch vor Ort stellt sich bei gemeinsamen Aktivitäten schnell heraus, dass die beiden Familien äußerst verschieden sind, weshalb die anfangs eher banalen Konflikte immer weiter eskalieren. Schon bald wollen Bjørn und Louise nur noch weg von hier – doch die gesellschaftlichen Normen „verbieten“ es ihnen, dem Gastgeberpaar vor den Kopf zu stoßen und einfach abzuhauen…
Fremdscham bis zur Schmerzgrenze (und weit darüber hinaus)
Es geht noch (vergleichsweise) harmlos los. So gibt sich Patrick bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch die Kante, obwohl er doch versprochen hatte, alle später nach Hause zu fahren – und dies dann in ausladenden Schlangenlinien auch tut, während er die Musik so laut aufdreht, dass alle nur noch von ihm genervt sind. Ein erster Höhepunkt ist dann erreicht, als der nackt schlafende Patrick die verängstigte Agnes nachts zu sich ins Ehebett lässt – zwar nur am Fußende, aber für Louise ist es damit endgültig genug: Die Sachen werden gepackt und noch im Morgengrauen die Rückfahrt angetreten! Wegen eines (vermeintlich) vermissten Lieblingskuscheltiers macht die Familie jedoch kehrt – und es kommt in der Küche zur Aussprache: Plötzlich sind es die dänischen Gäste, die eine ordentliche Standpauke bekommen – denn Abhauen ohne Verabschiedung gehört sich nicht.
Solche zunehmend ungemütlichen Situationen finden sich mit steigernder Eskalationsstufe zuhauf in „Speak No Evil“. Besonders eine lange Szene, bei der Patrick seinen bei einem einstudierten Tanz aus dem Takt kommenden Sohn immer schärfer maßregelt, bleibt schmerzhaft im Gedächtnis hängen: Die Brüder Tafdrup zwingen das Publikum gnadenlos dazu, das Geschehen mit eigenen Erfahrungen abzugleichen. Denn wer mischt sich schon gern in die Erziehung fremder Kinder ein, selbst wenn es in bestimmten Situationen (wie dieser) sicherlich unbedingt angebracht wäre?
Irgendwann kippt der Horror – von der bloßen Sorge, gegen die Gesetze der Höflichkeit zu verstoßen, in Richtung blankes Grauen!
Abseits der schwer aushaltbaren Szenen, die durchaus (wenn auch ohne voyeuristische Selbstreferenz) an Michael Hanekes Psycho-Mindfuck „Funny Games“ erinnern, weist das psychologisch ungeahnt komplexe Skript auch nuancierte Charakterzeichnungen auf. So leidet der biedere Bjørn unter den trivialen Zwängen seines geregelten Lebens – worüber er sich bei einer gemeinsamen Autofahrt beim arbeitslosen Patrick ausheult, den er ob seiner rauen, ungezügelten Virilität bewundert. Schon von Beginn an setzt Komponist Sune Kølster mit kurzen und düsteren Bläser-Passagen immer wieder musikalische Nadelstichen in die (zumindest auf den ersten Blick) heile dänische Hygge-Welt.
Wenn die unheilvollen Klänge allzu kontrapunktisch gegen die Urlaubsidylle der Toskana eingesetzt werden, wirken sie allerdings nahezu lächerlich bedeutungsschwanger. Die unheilvolle Grundstimmung, die bei Tafdrups radikaler Abrechnung mit dem Fatalismus falscher Höflichkeiten und passiver Zurückhaltung entsteht, nimmt auch ohne musikalischen Bombast oder Schockeffekte beinahe unmerklich, wenn auch etwas schleppend an Intensität zu. Erst im letzten Drittel schleichen sich nach einer schockierenden Wendung noch zwei Gewaltspitzen in den Film, dessen brachiales Finale einen tatsächlich äußerst verstört zurücklässt.
Fazit: Christian und Mads Tafdrup ziehen die Spannung-Schraube zwar manchmal etwas bedächtig, aber doch unentwegt immer weiter an – so entsteht eine unheilvolle Stimmung, der man sich kaum entziehen kann, zumal man die gesellschaftlichen Zwänge der in der Höflichkeits-Falle festsitzenden dänischen Familie nur zu gut nachvollziehen kann. In der letzten halben Stunde bricht sich das Grauen dann vollends Bahn und das Publikum bleibt speziell nach zwei schmerzhaft-naturalistischen Gewaltausbrüchen tatsächlich ziemlich schockiert und verstört im Kinosaal zurück.
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