Freundlichkeit, Verständnis, bloß niemanden vor den Kopf stoßen. Diese Werte sind heute gefragt. Aber was ist, wenn die pazifistische Lebensauffassung handlungsunfähig macht? Der dänische Horrorfilm „Speak No Evil“ ist eine Warnung vor westlicher Verweichlichung.
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Was soll schon schiefgehen? Wenn dieser Satz fällt, kann man sich zu 90 Prozent sicher sein: Da wird sich jemand alle Mühe geben, die Frage in exzessiver Kreativität zu beantworten. Im Film „Speak No Evil“ des Dänen Christian Tafdrup finden Bjørn (Morten Burian) und seine Frau Louise (Sidsel Siem Koch) die aus dem Nichts kommende Einladung zweier Fremder zwar etwas merkwürdig, aber auch ein bisschen aufregend. Im Vorjahr hatten sie die niederländische Familie im Italienurlaub kennengelernt und sich gut mit ihr verstanden. Jetzt die Postkarte mit dem Vorschlag, ein Wochenende gemeinsam in deren Landhaus zu verbringen.
Das einzige, was kurz zweifeln lässt, ist die Tatsache, dass man in diesem Jahr bereits zwei Mal geflogen ist. Nicht so gut für die CO₂-Bilanz. Aber als Freunde raten, die achtstündige Fahrt mit dem Auto aufzunehmen, steht dem Plan nichts mehr im Wege. Immerhin hat das andere Paar einen Sohn, Abel (Marius Damslev), im Alter der eigenen Tochter Agnes (Liva Forsberg), der Mann ist Arzt. Außerdem fühlt sich Bjørn, das wird im Laufe der Handlung immer deutlicher, irgendwie gefangen in seinem Alltag, der daraus besteht, Freunde zum selbst gekochten Abendessen zu treffen, die er eigentlich nicht ausstehen kann.
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Doch in Holland angekommen, entpuppt sich das Wochenende schnell als unangenehme Konfrontation zweier inkompatibler Lebensstile. So gehen die ersten zwei Drittel des Films als Gesellschaftssatire durch, die mit bestechender Klarheit und subtilem Grusel die scheinheilige Oberfläche junger, moderner, einem ökologisch-angesagten Lebensstil frönender Paare entlarvt. Die aufgeworfenen Fragen haben sich bestimmt viele schon mal gestellt: Was macht man, wenn der Gastgeber ausschließlich Fleisch anbietet, obwohl man gesagt hat, dass man Vegetarier ist? Und wenn der Gastgeber ganz selbstverständlich zum Zähneputzen ins Badezimmer kommt, obwohl man gerade unter der Dusche steht?
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Ist es normal, dass das Gast-Kind nur eine Schlafmatratze auf dem Boden bekommt? Wer bezahlt, wenn man gemeinsam Essen geht, die Gäste zum Dank oder die Gastgeber, die das Restaurant ausgesucht und über die Pläne bestimmt haben? Und schließlich: Handelt es sich bei all dem um unfreiwillige Missverständnisse oder wollen die Gastgeber womöglich bewusst die Grenzen ihrer Besucher testen?
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Als besonders heikel erscheint das Thema Kindererziehung. Nichts gilt als übergriffiger als die Methoden anderer Eltern zu kommentieren. Gleichzeitig ist nichts fataler, als da wegzuschauen, wo Kindern Unrecht angetan wird. Viele der gezeigten Verständnisschwierigkeiten werden so differenziert dargestellt, dass der Film trotz der Fokalisierung der dänischen Gäste kaum Partei ergreift: Wenn Patrick (Fedja van Huêt) und Karin (Karina Smulders) vor Bjørn und Louise wild rumknutschen, muss man das nicht als Respektlosigkeit deuten, sondern kann das Verhalten auch einfach als befreiten Umgang mit Sexualität verstehen.
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Vielleicht ist es in den Niederlanden normal, die Kinder zu Hause zu lassen, wenn man zum Abendessen fährt, was ist schon dabei. Oder nach ein paar Bier Auto zu fahren, immerhin kennt man die Gegend. Andere Länder, andere Sitten. Aber wann wird „anders“ gefährlich? Wie viel hält man aus? Und wann ist der Punkt erreicht, an dem man etwas sagen sollte?
Das blanke Entsetzen
„Speak No Evil“ liefert eine Parodie auf die Maske der Höflichkeit, hinter der sich das zunehmende Grauen verbirgt. Unter dem Deckmantel der Toleranz werden sich permanent steigernde Zumutungen ertragen und der Zeitpunkt zum Gehen verpasst. „Kannst du nicht akzeptieren, dass es verschiedene Erziehungsmodelle gibt?“, fragt der Gastgeber, als der Konflikt schon kurz vor der Eskalation steht. „Aber hier geht es nicht um ‚verschieden‘, sondern was ihr macht, ist einfach falsch“, antwortet der Gast. Als er sich das endlich traut, ist es vermutlich bereits zu spät.
Denn im letzten Drittel schlägt die vorher subtil inszenierte Unentschiedenheit in blankes Entsetzen um. Szenen, bei denen der gute Geschmack die Kamera rechtzeitig zur Seite schwenken lassen würde, werden dem Zuschauer gnadenlos zugemutet. Das Überfrachten dieser unnötig gewaltvollen Szenen mit religiöser Ästhetik bewahrt die Grausamkeit nicht davor, kalt und zynisch zu wirken. Tafdrup hätte sich bei Thrillern wie Jordan Peels „Get Out“ oder Emerald Fennells „Promising Young Woman“ ein Vorbild nehmen können, wie man den größtmöglichen Schrecken inszeniert, ohne den Zuschauer dabei mit Magenschmerzen und Übelkeit aus dem Kino zu entlassen.
Stattdessen orientiert er sich an Michael Hanekes „Funny Games“ und Lars von Triers „Antichrist“. Dazu trägt nicht nur die unverhohlen ausgestellte Gewalt bei, sondern auch die Haltung des Films zu seinen Protagonisten: Er distanziert sich nicht von der Erklärung der Täter, die auf die Frage „Warum tut ihr uns das an?“ mit „Weil ihr es zulasst“ antworten. Stattdessen suggeriert er eine Mitschuld der Opfer an ihrem Schicksal. Verweichlicht, von einem selbstzerstörerischen Pazifismus gelähmt und handlungsunfähig bis zur Verantwortungslosigkeit, haben es Louise und Bjørn vielleicht nicht anders verdient. Das Ende ist ein Schlag ins Gesicht der christlichen Glaubenssätze, der Klügere gäbe nach, oder man solle auch die andere Wange hinhalten.
Der Horrorfilm gehört ja insofern zu den gesellschaftskritischen Gattungen, als er sich in erster Linie fragen muss, was aktuell das größte Hindernis des menschlichen Glücks darstellt, und es sich dann zur Aufgabe macht, diesen Feind zu personifizieren. Hier findet sich der Feind auf der Mikroebene, den Minimal-Aggressionen falscher Freundlichkeit, Hörigkeit und Toleranz. Insofern diese nicht nur bei den Tätern, sondern vor allem auch bei den Opfern zu verorten sind, gelingt dem atmosphärisch dichten, überzeugend besetzten Film ein schockierender, wahrscheinlich nicht für alle erträglicher Kommentar zu den Abgründen des liberalen Lächelns.